Anorexia und ich

Anorexia oder Wer isst denn noch normal?

Der Begriff Magersucht (Anorexie) bezeichnet per Definition einekrankhafte Essstörung, die gekennzeichnet ist durch einen starken selbst verursachten Gewichtsverlust und gleichzeitig durch eine große Angst vor einer Gewichtszunahme. (http://www.onmeda.de/krankheiten/magersucht-definition-1535-2.html)

Wer isst heute noch normal? Was ist normal?
Rückblickend kann ich nur sagen, ich weiß nicht, wann ich je normal gegessen hab.
Okay, bis ich 14 war vielleicht. Dann fing es an. Ich wollte abnehmen. Ich hatte Normalgewicht. Aber ich hörte auf, zusammen mit meiner Familie zu essen. Mein Vater brachte ein halbes Hähnchen und Pommes zum Abendessen. Ich saß abseits und knabberte Zwieback.
Nun kann man streiten, ob Pommes und Hähnchen gesunde Ernährung sind, aber für mich begann die Abwärtsspirale der Essstörung. Seitdem habe ich immer wieder Phasen gehabt, in denen ich gehungert habe. Abgewechselt mit Phasen, in denen ich gefressen habe.
Mit 16 wurde ich Vegetarierin. Auf Klassenfahrten hungerte ich, weil ich dachte, ich werde eher akzeptiert, wenn ich dünn bin. Danach fraß ich zuhause Schokoladen-Croissants und andere Süßigkeiten und nahm alles und mehr wieder zu.
In der Studienzeit gab es Phasen, wo ich morgens Milchreis, mittags Schokolade und abends nichts gegessen habe. Phasen, wo ich nur selbstgemachte Dinkelmehlfladen ohne Salz und Fett gegessen habe. Wo ich aufgrund der wachsenden Verdauungsprobleme immer mehr Lebensmittel ausließ. Fructose-, Lactose-, Gluten-, Histamin-Intoleranz, alles, was es so auf dem Markt gibt.
Und es machte alles nur schlimmer. Ich hungerte mich runter (ich glaube, das niedrigste Gewicht war 45 kg bei meiner Größe von 1,65 m) und nahm alles und mehr wieder zu (Maximum ca. 68 kg). Das sind jetzt alles keine extremen Zahlen. Ich wurde nie so dünn, dass man mich hätte einweisen müssen oder dass man überhaupt dachte, ich habe eine Essstörung. Mir wurde gesagt, ich wäre ja schön dünn oder zierlich. Ich selbst empfand mich als fett. Aber nie hat jemand gesagt oder gefragt, ob ich essgestört bin.
Während eines Praktikums in Italien zum Beispiel aß ich wochenlang nur fettfreien Joghurt,dazu gab es morgens eine Kiwi und einen halben Apfel sowie ein paar Nüsse, mittags einen kleinen Salat und abends evtl-. gedünstetes Gemüse. Ansonsten nur fettfreien Joghurt. Dazu arbeitete ich in einem Kindergarten, wo ich den ganzen  Vormittag Energie brauchte, und lief täglich mehrere Kilometer durch die Gegend, und schwamm dann noch ein bißchen im Meer rum und machte ein paar Übungen für meine Arme.
Der Effekt: ich konnte nicht schlafen. Ich döste nachts ein bißchen, aber es war kein richtiger Schlaf, ich war irgendwie immer halb wach, halb aufgerichtet, schwer zu beschreiben. Wenn ich dann früh aufstand und mir endlich mein heiß erwartetes Frühstück (siehe oben) plus Kaffee machte, konnte ich danach endlich noch ein bißchen schlafen. Ich fand das schon merkwürdig, aber mir war nicht klar, woran das lag.
[Wenn man nicht genug isst, läuft der Körper auf Adrenalin, was einem viel Energie gibt, aber auch schlaflos macht, weil der Körper alles daran setzt, dass man mehr Nahrung beschafft. Für den Körper ist das STRESS pur. Nach dem Frühstück hatte ich immerhin ein paar Kohlenhydrate im Magen, der Adrenalinspiegel sinkt und man kann endlich den lang benötigten Schlaf nachholen]
Während der Arbeit im Kindergarten war ich ein Zombie, konnte kaum was machen und schlief fast ein. Am Ende wurde ich von der Kindergartenleiterin quasi suspendiert, und ich fühle mich heute noch furchtbar dafür.
Ich hatte nie gewusst, dass Depressionen daher kommen, dass man zu wenig isst. Und dabei macht es soviel Sinn :)
Ich war während meiner ganzen Studienzeit immer mal depressiv, ohne große Energie oder Motivation. Ich hatte immer Heißhunger auf Süßigkeiten (Energie!) und gab dem auch oft nach. Als Ausgleich hungerte ich dann wieder.
Schade finde ich, dass die vielen Ärzte, bei denen ich in der Zeit war, nichts bemerkt haben. Ich hatte Hypoglykämie (Ärztin: "Na, ist doch super! Besser als zu hoch!"), Schilddrüsenunterfunktion (Jod und Tabletten), Calciumverlust (Endokrinologe: "aufgrund der veganen Ernährung, nehmen Sie mal ein Calcium-Präparat), PCOS ("aber nicht sehr wahrscheinlich, weil Sie ja einen normalen BMI von 19 haben." 19 ist schon echt niedrig!) usw. Nie fragte mich jemand, wieviel ich denn so esse.
Selbst später, als ich dann irgendwie zur gesunden Ernährung fand und mehr Obst und Gemüse aß, aß ich immer noch nicht genug. Ich fand zur Rohkost und dachte, endlich ein Weg, so viel zu essen wie ich will ohne zuzunehmen! Ich hatte die Geschichten gehört von Leuten, die soviel Fett (Avocados, Nüsse) essen konnten, wie sie wollten, sie nahmen nicht zu mit der Rohkost. Nun ja, ich probierte es aus und nahm ca. 10 kg zu. Aufgrund meines langsamen Stoffwechsels setzten die Nüsse bei mir sofort an.
Dann stieg ich um auf fettarme Rohkost mit viel Obst. Schließlich lebte ich von 1000 Kalorien am Tag (Äpfel und Salat) und hatte soviel Energie! Ja, die Rohkost wirkt! Schwachsinn. Ich lief wieder mal auf Adrenalin.

Heute blicke ich durch das System der Essstörung hindurch, ich weiß um die Schäden, die sie angerichtet hat, ich weiß, dass ich Regeneration brauche. Das Problem ist, dass man in der Regeneration zunimmt. Man muss einfach endlich genug (oder besser noch mehr als genug) essen, um die Schäden zu reparieren. Allerdings ist der Stoffwechsel vom ständigen Hungern so langsam, dass man von diesen Mengen natürlich zunimmt. Das ist temporär. Hilft aber nicht viel. Man fühlt sich furchtbar. Man ist essgestört, will dünn dünn dünn sein, aber das geht nur, wenn man seinen Stoffwechsel wieder hochfährt, und zeitweise zunimmt.
Das schlimmste ist, dass die heutige Gesellschaft Essstörungen fördert. Man wird schief angeguckt, wenn man genügend Kalorien isst. Wenn man viel isst und nicht dünn ist. Dann kriegt man zu hören, warum man nicht weniger isst, um abzunehmen. Die meisten wissen aber nicht einmal, wie viele Kalorien sie am Tag benötigen.

Ich bin noch nicht geheilt, was meine Essstörung angeht. Es ist schwierig und geht wohl auch nur in der richtigen Umgebung. Ich esse jetzt aber inzwischen viel mehr Kalorien (wahrscheinlich immer noch zu wenig).Ich bin nicht fett und ich werde nicht fett, weil ich auf hochwertige gesunde Ernährung setze. Aber: ich bin auch nicht dünn.
Ich versuche, meine Kalorienmenge langsam zu steigern. Als ich von den 1000 Kalorien Rohkost schlagartig auf 3000 Kalorien Rohkost (Bananen, Datteln) umstieg, hatte ich Symptome wie extreme Gewichtszunahme, Wassereinlagerungen, Stimmungsschwankungen, null Energie. Nun versuche ich es langsam.
Ich esse nicht mehr vegan noch vegetarisch. Ich brauche viel Eiweiß, um Schäden zu reparieren. Eine Phase von low carb brachte mir weitere Probleme, also esse ich jetzt wieder mehr Obst.
Ich bin immer noch insoweit "gestört", dass ich immer noch Nahrungsgruppen auslasse. Getreide, Hülsenfrüchte und ungesättigte Fette vermeide ich. Ich weiß nicht, ob es gesund ist oder nicht. Ich fühle mich besser, ich kann ein wenig Muskeln aufbauen, mein Haar sieht besser aus. Aber es ist noch ein langer Weg.

Meine Schwester hingegen hat ihr Leben lang keine Diät gemacht, und ebenso wenig Sport. Sie isst von allem etwas, mehrere Mahlzeiten am Tag. Topfigur. Jetzt hat sie ein bißchen mit Sport angefangen für mehr Ausdauer. Nicht um abzunehmen. Denn ihr Stoffwechsel arbeitet so wie es sein soll.

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